Wer das Populäre rechts liegen lässt, sollte sich über Populisten nicht wundern!

Unterhaltung als besondere Herausforderung der Aufsichtsgremien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk

"Programmmachen ist eigentlich ganz einfach," würde Mark Twain sein berühmtes Bonmot abwandeln, "man muss nur die falschen Inhalte weglassen." BILD (z.B. vom 18.04.2023) meint zu wissen, welche das sind, und wettert gegen die "politische "Korrektheit" der Tatort-Krimis", gegen "Minderheitenkult" und "Pseudo-Moral". Der "ziemlich beste Feind" (epd medien 16/2023) des öffentlich-rechtlichen Rundfunks lud dazu Andreas Guenther zum Interview. Der TV-Kommissar beklagte: "Mittlerweile sind viele Sonntagabend-Krimis gesellschaftspolitische Filme. Wo bleibt der klassische Krimi?" Er forderte: "Egal ob Mord, Entführung oder Raubüberfall – es muss spannend und zum Mitfiebern sein. Die ganze Familie ist dann sozusagen auf Täterjagd. Das ist doch Unterhaltung!"

Tut sich da eine populistische Falle auf für ARD und ZDF, aber auch für andere öffentlich-rechtliche Kanäle? Denn die 16 Bundesländer haben im 3. Medienänderungsstaatsvertrag (3. MÄStV) deren Auftrag umformuliert. Im ursprünglichen Text heißt es in Artikel 26: "Ihre Angebote haben der Bildung, Information, Beratung und Unterhaltung zu dienen. Sie haben Beiträge insbesondere zur Kultur anzubieten. Auch Unterhaltung soll einem öffentlich-rechtlichen Angebotsprofil entsprechen." In der Neufassung wird die Kultur nicht mehr durch einen nachgeschobenen Insbesondere-Satz hervorgehoben, sondern durch Erstplatzierung in der Aufzählung. Dafür wird die Unterhaltung mitsamt der Konditionierung in einen Zweitsatz gesteckt: "Die öffentlich-rechtlichen Angebote haben der Kultur, Bildung, Information und Beratung zu dienen. Unterhaltung, die einem öffentlich-rechtlichen Profil entspricht, ist Teil des Auftrags." Soweit nach außen drang, wurde in den Verhandlungen der Rundfunkkommission der Länder auf diese Weise die Unterhaltung mit spitzen Fingern wieder eingefügt, nachdem sie fast schon gestrichen war.

Die Zweitplatzierung aber klingt arg nach "protestantischer Ethik" à la Max Weber: Pures "Amüsemang" is‘ nich‘! Vergnügen muss schon Mittel zu höherem Zweck sein – der "Umerziehung", der "Sozialkritik" oder gar der "Weltrettung", wie BILD schimpft? Oder "nur" der Bildung, der Lebenshilfe, der Kultur? Die Begründung zum 3. MÄStV rudert vorsichtig zurück – womöglich dank Beraterblick auf Unterhaltungsbedürfnisse in heimischen Wahlkreisen? Zwar wird noch einmal betont, dass "die Bindung an das von den Rundfunkanstalten im Rahmen der Programmautonomie auszugestaltende öffentlich-rechtliche Profil besonders hervorgehoben und mit der Auftragserfüllung verknüpft" werde, "soweit mit öffentlich-rechtlichen Angeboten das Ziel der Unterhaltung verfolgt wird". Das schließe jedoch, man lese und staune, "Inhalte allein unterhaltender Zielsetzung nicht aus". Dieses freudlos geschraubte Zugeständnis wird sicherheitshalber ein weiteres Mal unter Kuratel gestellt mit der Erläuterung, dies begründe "aber eine Verpflichtung für die Rundfunkanstalten, dass zur Erfüllung ihres Auftrages ihr öffentlich-rechtliches Profil auch bei solchen Angeboten und Formaten zum Ausdruck kommt". Immerhin bleibt die Begriffsbestimmung im § 2, Satz 2, Ziffer 28 des Medienstaatsvertrags erhalten: "Unter Unterhaltung (ist) insbesondere Folgendes zu verstehen: Kabarett und Comedy, Filme, Serien, Shows, Talk-Shows, Spiele, Musik".

Der unentschieden distanzierte Umgang mit Unterhaltung lässt einige Fragen offen. Mit der Ergänzung von § 3 um den Absatz 4 übertragen die Länder im 3. MÄStV die Suche nach Antworten den Gremien. Denn diese haben nach seinem Inkrafttreten die Aufgabe, „für die Angebote der in der ARD zusammengeschlossenen Landesrundfunkanstalten, des ZDF und des Deutschlandradios Richtlinien aufzustellen und die Intendantinnen und Intendanten in Programmfragen zu beraten. Die Richtlinien umfassen die Festsetzung inhaltlicher und formaler Qualitätsstandards sowie standardisierter Prozesse zu deren Überprüfung; die Richtlinien sind in dem Bericht (über die Erfüllung ihres jeweiligen Auftrags) zu veröffentlichen und regelmäßig zu überprüfen.“

Beinahe so unterhaltsam wie im Stummfilm ist die Torte damit im Gesicht der ehrenamtlichen Aufsicht gelandet, was aber hoffentlich bürokratische Spaßdämpfer abfedert. Dass man sich unter dem umherfliegenden Wurfgebäck lieber wegduckte, ist nachvollziehbar. Denn das Sahnestück wird immer wieder aus verschiedenen Ecken in die Umlaufbahn befördert. Nur Guss und Deko variieren, das Innere besteht aber traditionell aus den immer gleichen Zutaten, der Frage nach "Qualität oder Quote?".

Gerade auch unter seinen Befürwortern ist der Vorwurf, der öffentlich-rechtliche Rundfunk sei "quotenfixiert", so verbreitet wie eine Neigung, einen Gegensatz zwischen Qualität und Quote auszumachen. Wenn etwa eine Kulturwelle wie Bremen Zwei ihre Quote steigert, lauert leicht der Verdacht, der Preis dafür könne nur Verflachung sein. Wer aber vermutet, das eine große Q sei am ehesten unter Verzicht auf das jeweils andere zu bekommen, fällt – vielleicht unabsichtlich, zumindest aber implizit – ein Qualitätsurteil auch über diejenigen, die durch ihre Zuwendung zu einem Programmangebot für Quote sorgen.

Wenn sich jemand an einem Quotenhit wie einer Samstagabend-Show, an einem Berg- oder Taldoktor, einem Krimi oder am "Dudelfunk" erfreut, hat er oder sie dann eine mindere Wertschätzung verdient als die abendliche Zuschauerin einer 3sat-Dokumentation oder der Hörspielhörer auf Bremen Zwei zu späterer Stunde? Wenn der Gedanke einer solchen Geltungshierarchie auch selten klar ausgesprochen wird, so ist er doch zu ahnen – vor allem von jenen, die sich gern einen Abend mit Florian Silbereisen gönnen oder mit den "Grüßen und Musik" auf Bremen Eins.

Diese Ahnung kann leicht zu einer gefühlten Gewissheit der Geringschätzung werden. Und sie würde sich einfügen in die womöglich ziemlich weit verbreitete Erfahrung, dass "Liberale blind (sind) für die Politik der Überheblichkeit und Demütigung". Diese Schlussfolgerung zieht jedenfalls der – zweifellos nicht illiberale - Harvard-Philosoph Michael J. Sandel in seinem fulminanten Warnschuss ("Vom Ende des Gemeinwohls") vor den Bug der eher linken liberals: "Baut man eine Politik rund um die Idee auf, dass ein akademischer Grad eine Bedingung für Respekt gebietende Arbeit und soziale Wertschätzung ist, dann wirkt sich das zersetzend auf das demokratische Leben aus. Es entwertet die Beiträge derer, die kein Diplom besitzen, fördert Vorurteile gegen weniger gebildete Mitglieder der Gesellschaft, schließt die meisten arbeitenden Menschen praktisch von der repräsentativen Regierung aus und ruft eine politische Gegenreaktion hervor" – nämlich Trumpismus ("Ich liebe die Ungebildeten!") und Populismus. Auch der sozialliberale französische Historiker Pierre Rosanvallon hat 2020 davor gewarnt, auf das „Jahrhundert des Populismus“, so sein Buchtitel, nur reflexhaft mit Abscheu und Empörung in routiniertem Entsetzen zu reagieren. Er plädiert: "Bevor man den Populismus als Problem analysiert, sollte man ihn als Antwortvorschlag auf die Probleme der Gegenwart verstehen." Schon 2008, als der Rechtspopulismus in den Niederlanden und in Flandern aufflammte, hat der belgische Erfolgsautor David Van Reybrouck in seinem (auf Deutsch erst 2017 erschienen) Plädoyer "Für einen anderen Populismus" vor der "Kulturkluft" in der "Diplomdemokratie" gewarnt.

Für das hier angesprochene Debattenfeld ließe sich daraus die Mahnung ableiten: Wer das Populäre links – bzw. rechts – liegen lässt, sollte sich über Populisten nicht wundern.

Zur weiteren Vertiefung ein kleines Gedankenexperiment, dafür bietet sich ein Format an, auf das trotz großer Zuschauerschar gern herabgeblickt wird, ein Quiz. Wir lassen z.B. Kai Pflaume fragen: "Welche der folgenden Zeilen wird im Allgemeinen der Hochkultur zugerechnet,
a) "Schau die Sterne, die beben vor Liebe und Hoffnung",
b) "Ich wünscht‘, ich könnt die Zeit anhalten, den Moment in mir behalten?"

Die richtige Antwort ist selbstverständlich a)! Jonas Kaufmann singt die poetisch höchst ambitionierte Zeile gern auch in der 3sat-Übertragung von der restlos ausverkauften Berliner Waldbühne, wobei das dargebotene italienische Original von Puccinis "Nessun dorma" wohl mehrheitlich verhindert, dass das verzückte Publikum dem Wortsinn des Gesungenen folgen kann. Die zweite Zeile stammt aus dem Mund von Helene Fischer, zuweilen per Personality-Show öffentlich-rechtlich in weihnachtliche Wohnzimmer geschickt. Vermutlich sitzen davor auch einige der heroes und sheroes, die am Anfang der Corona-Krise – welch mühevolle Erinnerung! - von Balkonen beklatscht wurden, die Pflegekraft im Altenheim oder auf der Intensivstation, die Paketbotin, der Supermarktkassierer. Nach zwischenzeitlich wertgeschätzten, aber nach wie vor kärglich bezahlten (Über-)Stunden im Knochenjob suchen sie womöglich Entspannung bei leichter, "seichter" (Stuttgarter Zeitung) Unterhaltung.

Übrigens, der letzte bekennende Sozialdemokrat, der noch große Hallen füllt, ist Roland Kaiser. Seit zwanzig Sommern füllt er gar die Dresdner Elbauen mit seiner "Kaisermania", 2023 mit 60.000 verkauften Tickets an vier Abenden. Mit der samstäglichen Live-Übertragung des Jubiläumskonzerts am 5. August konnten MDR und SWR immerhin bundesweit ein 1,8-Millionen-Publikum zu ihren Dritten locken (Marktanteil 8,3%, MDR in seinem Sendegebiet: 18,6%). Vor Ort trotzte ein beachtlich vielfältiger Bevölkerungsquerschnitt mit textsicherem Mitsingen dem Nieselregen. Wenn Kaiser dabei sein "Amore mio" gesungen hätte, wäre das dann wirklich so viel bedeutungsloser als das vom Star-Tenor bei besagter Opern-Open-Air geschmetterte "O sole mio"? Nur weil das eine Lied ein deutscher Schlager vom Ende des 20. und das andere ein neapolitanischer Gassenhauer vom Ende des 19. Jahrhunderts ist? Macht vielleicht die Begleitung durch ein vielköpfiges Sinfonieorchester den Unterschied? Handelt es sich dann bei der Zugabe des zum Volkslied avancierten Reklamesongs von 1880 für eine Standseilbahn zum Vesuv, "Funiculì, Funiculà", dank Alter und Violinenfortissmo ganz fraglos um Kultur oder doch nur um Unterhaltung? Bei Musik dürfte das den Gremien abverlangte Qualitätsurteil besonders schwerfallen und leicht geschmacksabhängig werden. Denn Musik wird im Medienstaatsvertrag nicht nur unter der Ziffer 28 von § 2 zur Definition von Unterhaltung aufgeführt, sondern auch unter Ziffer 27 (Kultur). Wenn aber alt-neapolitanische Volksmusik, mit der noch heute gutes Geld verdient wird, ohne Qualitätsbedenken gesendet werden darf, was ist dann mit heutiger deutscher oder mit Schlagern und ihrer Qualität?

Hier kommt es wohl bei der Entwicklung, Anwendung und stetigen Tauglichkeitsüberprüfung der verlangten Richtlinien ganz besonders auf den Austausch an mit im Fach erfahrenen Programmverantwortlichen, aber auch mit der Publikumsforschung der Anstalten sowie auf gelegentlich gezielte Auftragsforschung und einen intensivierten Dialog mit dem Publikum. Das Ehrenamt braucht nicht nur da Unterstützung durch Beratung - womöglich auch von unkonventionellen Kulturpolitikern. Mit Blick auf Anerkennung und Förderung sagte der neue Berliner Kultursenator Joe Chialo im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (Nr. 31 v. 6.8.2023): "Wir müssen über alle Musikrichtungen reden, die die Herzen zum Klingen bringen. Dazu gehören auch Schlager."

Im Zuge des "apertistischen (in etwa: öffnenden) Liberalismus" (Andreas Reckwitz) der letzten Jahrzehnte hat sich unsere Gesellschaft enorm pluralisiert. Beispielsweise sind Trauerfeiern ohne kirchlichen Beistand auch in der industriellen Mittelschicht keine Besonderheit mehr. Doch in diesem nicht gerade klassikaffinen Milieu ist der "Marche funèbre" von Chopin keine weltliche Alternative zu "Jesus, meine Zuversicht". Das sind eher: "Geboren, um zu leben" von Unheilig, "Amoi seg‘ ma uns wieder" von Andreas Gabalier und "Über sieben Brücken musst du geh’n" von Carat oder in der Version von Peter Maffay. Man kann Sätze wie "Ich denke an so vieles, seit du nicht mehr bist" oder "Uns oin is die Zeit zu gehen bestimmt wie a Blattl trogn vom Wind" oder "Manchmal wünsch ich mir mein Schaukelpferd zurück" als Trivialpoesie abtun. Man muss dabei nur wissen, wie vielen Menschen in der oft beschworenen Mitte unserer Gesellschaft sie Trost bedeuten können.

Ein Rundfunk, der den Anschluss an Schichten und Milieus voller Schlager- und Volksmusik-Fans verliert, muss über kurz oder lang um seinen gesellschaftlichen Rückhalt fürchten, um seine Legitimität. Wenn Helene Fischer zu ihrem Tournee-Auftakt die Bremer ÖVB-Arena dreimal hintereinander ausverkauft, dann jubeln dort zusammen über 30.000 Beitragszahler:innen.

Für einen Rundfunk, der von allen Wohnungsinhaberinnen und -inhabern (bzw. Haushalten, im Übrigen unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Sprachkenntnis) pflichtfinanziert wird, muss grundsätzlich die goldene Regel der Demokratie gelten: One person, one vote – eben nicht nur in der Wahlkabine, sondern auch an der Fernbedienung. Insofern beliefert das öffentlich-rechtliche Angebot im Prinzip keinen Markt, da die Angehörigen eines Haushalts keine Wahl im Sinne einer Kaufentscheidung treffen können. Die relativ größte Last tragen übrigens die Beitragszahlerinnen und -zahler, deren schmales Einkommen just oberhalb eines Befreiungsgrundes liegt. Und Einkommen korreliert hoch mit dem formalen Bildungsabschluss.

All diejenigen, für die pflichtgemäß Beitrag entrichtet wird (oder die davon rechtens befreit sind), haben einen Anspruch auf eine Vollversorgung. In diesem Sinne habe das Bundesverfassungsgericht, so der Medienrechtler Dieter Dörr in einem Vortrag vor der Juristischen Gesellschaft Bremen e.V. (epd medien, Nr. 23 v. 09. Juni 2023), den Grundversorgungsauftrag dynamisch interpretiert und konkretisiert, es spreche daher nur noch vom „klassischen Funktionsauftrag“ des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Das spricht dafür, den unterschiedlichen alters-, bildungs-, schicht- und milieuspezifischen Erwartungen an das Programmangebot zunächst einmal mit gleicher Aufmerksamkeit und Wertschätzung zu begegnen. Allerdings haben die Beitragszahlerinnen und -zahler als Staatsbürgerinnen und -bürger in der Wahlkabine Repräsentantinnen und Repräsentanten des Volkswillens bestimmt, die im Sinne des Gemeinwohls, der Berücksichtigung von Minderheitsinteressen, des kulturellen Erbes oder der Bildung Anforderungen mit Gesetzeskraft formulieren können und sollen. Insofern werden Erwartungen an das Programm im Sinne von Qualitätsansprüchen demokratisch gewichtet. Die Gremien, die ihrerseits die Breite der Gesellschaft repräsentieren, nach Radio-Bremen-Gesetz z.B. "die Interessen der Allgemeinheit im Hinblick auf die Anstalt" vertreten sowie „der Vielfalt der Meinungen in der Bevölkerung Rechnung tragen“ und die nun das Wächteramt über die Erfüllung von Qualitätsrichtlinien ausüben sollen, tun aber gut daran, den Grundansatz „one person, one vote“ nicht aus den Augen zu verlieren. Dann helfen sie mit, die "Krise der Repräsentation" nicht weiter zu verschärfen, die der Bremer Politikwissenschaftler Philip Manow in seinem Buch "(Ent-)Demokratisierung der Demokratie" statt einer Krise der Demokratie analysiert.

Der One-Person-one-vote-Gedanke gilt gewiss nicht nur bezogen auf Programmentscheidungen unabhängig von der Himmelsrichtung, also gleichermaßen für – im Uhrzeigersinn sortiert und nicht als Gegensätze – Norddeutsche, Ostdeutsche, Süddeutsche und Westdeutsche ebenso wie für die Menschen rund um die Mitte der Republik (den Ortsteil Niederorla der Gemeinde Vogtei im Unstrut-Hainich-Kreis in Thüringen). Aber das ist ein anderes Thema.

Wie unterschiedlich die Erwartungen an Programm sein können, soll ein weiteres erlebtes Beispiel illustrieren. Die Zufallsmethode der anekdotischen Evidenz kann zwar keine Repräsentativität erzeugen, wohl aber nachdenklich stimmen. In einem abendlichen Tischgespräch forderte die in komfortablen wirtschaftlichen Verhältnissen lebende pensionierte Pädagogin ein deutliches Mehr an Information vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Am darauffolgenden Sonntag störte sich eine Kombattantin im Sportstudio daran, dass sie nach den „größten Hits aller Zeiten“ nun die recht ausführlichen 13-Uhr-Nachrichten auf Bremen Eins hören musste. Schon zuhause vermeide sie Nachrichten, hier wolle sie sich nur noch entspannen. Das lebendige Beispiel für news avoidance arbeitet im sozialen Bereich im ärmsten Bremer Stadtteil. Es gibt offenbar anstrengende, gemeinnützige Lebenswelten, aus denen ein mediales Bedürfnis nach überwiegend unterhaltender Abwechslung erwächst. Mithin ist es Aufgabe der Gremien, die Qualität des Programms zu beurteilen, und nicht die Qualität des Publikums.

Im Design spricht man von Qualität als "Eignung zum Gebrauch". Da verschiedene Menschen unterschiedliche Gebrauchsabsichten hegen können, kann Qualität kaum ein absoluter Maßstab sein. Deshalb kann in der Medienkritik Qualität auch kaum gegen Quote stehen. Ein Gegensatzpaar wie "Gattung vs. Quote" oder "Genre vs. Quote" könnte begrifflich treffender und produktiver sein. Denn eins ist wohl fast unumstößlich der Fall: Das Kulturjournal verliert im Fernsehen gegen die Unterhaltungssendung und im Hörfunk gegen das durchformatierte Musikprogramm. Dennoch ist es im öffentlich-rechtlichen Rundfunk unverzichtbar. Das gebietet der gesetzliche Auftrag und auch ein wohlverstandenes Eigeninteresse der Sender.

Manch quotenschwächeres Angebot verdient gewiss einen besseren Sendeplatz. Ein reizvolles (Gedanken-)Experiment wäre es beispielsweise, einmal aus dem Talk-Show-Muster auszubrechen und die bedächtig argumentative Phoenix-Runde nach dem Tatort am Sonntag auszuprobieren.

Die mit der Primetime und dem Sender verbundene symbolische Gewichtung wird wohl noch eine lineare Weile gelten, auch wenn sich Zuschauerinnen und Hörer inzwischen immer zahlreicher und umstandsloser zu beliebiger Zeit non-linear aus Mediathek und Audiothek bedienen können. Da stößt die Forderung des Bundesverbandes Regie nach einem quotenfreien Abend pro Woche – wie einige weitere BVR-Vorschläge - durchaus auf Sympathie. Die Stunden ohne Quotenstress müssten dann aber gutgeschrieben werden im Vergleich der Marktanteile, der von Medienkritik und -politik ja doch allen quotenverachtenden Qualitätsforderungen zum Trotz gern nach Art des, wie Briten sagen, Pferderennen-Journalismus angestellt wird.

Richtig spannend wird es, wenn es zu einem (eigentlich besser zu vermeidenden) Fotofinish zwischen zwei Sendungen des gleichen Genres kommt. Der letzte Ostermontag bescherte da ein Überraschungsei. Der sonst erfolgsverwöhnte "Tatort" im Ersten kam auf magere 19,9% Marktanteil und wurde knapp mit 20,2% überholt – vom ZDF-Montagskrimi "Nord Nord Mord". Beide zusammen verfehlten aber mit 12,14 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern die „Münster-Tatorte“ um glatte zwei Millionen. An den Regieleistungen liegen die Popularitätsunterschiede vermutlich nicht, wohl eher an der ostermontäglichen Konkurrenz privater Kanäle, die zu fünft mit Quiz- und Musikshows, Action- und Fantasyfilmen 8,61 Millionen oder 33,4% vor die Bildschirme lockten. Oder hat es womöglich etwas mit dem Sujet des "Berlin-Tatorts" zu tun, nämlich rechten Netzwerken in der schmuddeligen Hauptstadt? Statt bloß menschlicher Abgründe vor weißstrandiger Reet-Kulisse der Insel Sylt? Kommissar Thiel und Professor Börne können jedenfalls bei allem quantitativen Erfolg mit einem vorbildlichen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt punkten. Schließlich geht es stets auch darum, dass der C&A-umschlotterte Embonpoint eines St.-Pauli-Fans richtiger liegen kann als der Mastermind eines Hoch(ein)gebildeten im Maßanzug.

Wer am Geschmack oder gar dem Verstand des Fernsehpublikums (ver)zweifelt, mag sich mit den Quoten der Krisenjahre trösten. In etwas ruhigeren Zeiten, im letzten "Normaljahr" 2019, befanden sich in der Zählung von Meedia unter den zwanzig meistgesehenen Sendungen elfmal ein "Tatort", achtmal Sport, überwiegend Live-Fußball auf RTL, und nur einmal die "Tagesthemen". Während der Corona-Wellen und nach dem russischen Angriff auf die Ukraine wurden dagegen Nachrichten- und aktuelle Sondersendungen zu Rekordhaltern. Das ist "TV on demand", lineares Fernsehen nach Bedarf. Wenn das Informationsbedürfnis steigt, gibt es einen Run auf die öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen, denen das Publikum das höchste Vertrauen entgegenbringt. Das könnte Skeptikern des Populären zur Beruhigung dienen.

Letztlich kann es also nicht um Qualität gegen Quote gehen, sondern nur um "artgerechte", auch zielgruppengerechte Qualität in jedem Genre, unabhängig von der Quote. Da Qualität nur selten nichts mit Geld zu tun hat, ist das allerdings nicht ohne sorgfältig abgewogene Ressourcenverteilung denkbar, die möglichst jedem Genre Aussicht auf hohe Qualität eröffnet. Programmverantwortliche, interessierte Öffentlichkeit und Gremien müssen dafür permanent - durchaus diskursiv und auch im Streit - öffentlich-rechtliche Qualitätsmaßstäbe weiterentwickeln.

Die Quotenverteilung im linearen setzt sich im Übrigen im digitalen Angebot fort. Fiktionale Produktionen werden aus der ARD-Mediathek mit Abstand häufiger abgerufen als alle anderen Angebote, auch wenn Kultur- und Doku-Fans eigentlich am ehesten der versierte Umgang mit der zuweilen noch ruckeligen Non-Linearität zuzutrauen wäre. Die Fans von "Sturm der Liebe" schaffen es aber locker, der nachmittäglichen Telenovela eine dominante Spitzenposition zu verschaffen. Auch das zeigt: Dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird unbedacht oder absichtlich eine Falle gestellt, wenn die Forderung nach einer Konzentration auf Information, Bildung und Kultur erhoben wird.

Zuletzt haben die Jungen Liberalen ein Aus für Florian Silbereisen und andere Unterhaltungsshows gefordert. Das mag abgehobener Unkenntnis gleichaltriger Schlagerfans geschuldet sein, die in jeder Fernseh-Show beim Mitsingen zu sehen sind, oder ähnlich ungestümem Überschwang wie die jungsozialistische Forderung nach antirassistischen und feministischen Pornos in den öffentlich-rechtlichen Mediatheken (deren Qualitätsbewertung in Gremiensitzungen nur mit einigem Stirnrunzeln vorstellbar ist). Die JuLis demonstrieren aber: Bildungs- und kulturbesorgte Tugendwächter, die selbst an Samstagabenden ihrem erhobenen – linken oder rechten - Zeigefinger keine Pause gönnen, gehen eine unheilige Allianz mit Marktradikalen ein, die Fiktion und Unterhaltung nur zu gern exklusiv privaten Anbietern, vulgo dem Markt, vorbehalten würden. Eine Antwort auf das so gescholtene „Unterschichtenfernsehen“ kann aber nicht in einem "Oberschichtenfernsehen" liegen, im Populistensprech: "Eliten-TV". Dessen Schicksal wäre vorgezeichnet: Ein breit akzeptiertes Massenmedium würde in eine Randexistenz gedrängt, wie sie der Public Broadcasting Service in den USA fristet. Legitimität ist in einer Demokratie auf Zustimmung angewiesen. Ein öffentlich-rechtlicher Rundfunk, der das breiteste Publikumsinteresse ignorieren müsste, würde eher über kurz als über lang nicht mehr von der Allgemeinheit finanziert werden können oder müsste sich von Brosamen nähren, die vom Tische staatlicher Haushälter krümeln. Und mit diesen Krümeln würde die Staatsferne zerbröseln.

Und was ist mit Fußball? Dass der kapitalintensiv durchorganisierte Rasensport das massenhafte Publikumsinteresse in scheppernd klingende Münze verwandelt und auch von öffentlich-rechtlichen Vollversorgern für Übertragungsrechte verlangt, kann man doch nicht in erster Linie ARD und ZDF vorwerfen, oder? Solange diese Sportart vornan zu den letzten Lagerfeuern der Republik gehört, um die man sich zahlreich und dabei klassenlos (VIP-Zonen in Stadien mal außer Acht gelassen) versammeln kann, solange sollte ein beitragsfinanzierter Rundfunk auch diejenigen damit beglücken dürfen, die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Lage von der Beitragszahlung befreit sind und sich somit - wie auch manch andere - kein Pay-TV leisten können und ebenso wenig drei Bier in der Sky-Kneipe. Allerdings gibt es berechtigte Grenzen. So hat die ARD schon vor geraumer Zeit den Sportrechte-Etat vor allem als Signal an die Verbände gedeckelt und vor kurzem sogar gekürzt.

Wer partout keinen Fußball sehen (oder auch hören) will und auch nicht Florian Silbereisen, sollte es einmal mit einer Grundregel für die Bewertung von Programmangeboten versuchen: Es ist zwar nicht meins, aber es kann deins sein! Allerdings muss es fraglos öffentlich-rechtliche Schranken geben, die verantwortlich ausgehandelt werden, zumal bei „Inhalten allein unterhaltender Zielsetzung“. Deren gemeinschaftsförderliche Qualität lässt sich vielleicht am ehesten ex negativo bestimmen. Voyeurismus, Sensationsgier, billige Schadenfreude oder das Niedermachen von Gescheiterten dürfen weder für den Kick noch für den Klick sorgen. Denn gute Unter-Haltung braucht eben auch das: Haltung.

Die Nicht-meins-aber-deins-, kombiniert mit der One-person-one-vote-Grundregel könnte der Verabsolutierung einzelner Ansprüche an öffentlich-rechtlichen Rundfunk vorbeugen. Und sie könnte einen Beitrag dazu leisten, was Van Reybrouck in seinem schon zitierten Essay versuchsweise einen "demokratischen" und einen "aufgeklärten Populismus" nennt. Eine solche Volkstümlichkeit darf gerade nicht ein Definitionskriterium erfüllen, das Pierre Rosanvallon und Jan-Werner Müller ("Was ist Populismus?") übereinstimmend als wesentlich ansehen: Populisten behaupten einen einheitlichen Volkswillen und reklamieren für sich den exklusiven Zugang zu dessen Erkenntnis. Das Volk kommt dagegen immer im Plural vor, wie Habermas feststellte.

Chantal Mouffe, die schon mit ihrem Buchtitel "Für einen linken Populismus" eintritt, will die "neuen sozialen Bewegungen" möglichst umfassend in die Pluralität des Volkes einbeziehen: "urbane, ökologische, antiautoritäre, antiinstitutionelle, feministische, antirassistische, ethnische und regionale ebenso wie diejenigen sexueller Minderheiten". Die Klimabewegung würde sie heute gewiss einbezogen haben. Die belgisch-britische Politikwissenschaftlerin wirbt nicht nur für inklusive Diversität. Sie verdeutlicht zudem, dass Menschen auf der affektiven Ebene ansprechbar sind, dass auch in komplexen Gesellschaften nicht nur rationale Argumente zählen, sondern ebenso "Gefühlslagen". Bei all der Mouffeschen bunten Vielfalt dürfen aber beispielsweise die grauen Zukunftssorgen um Arbeit und Ansehen von Beschäftigten im Automobilbau oder auch die Verlustängste in Regionen mit Braunkohletagebau nicht ihrerseits an den Rand gedrängt werden. Oder die Nöte der Fahrer und Bringedienstler im Niedriglohnsektor, die nur schwer an das Ende des Planeten denken können, weil das Ende des Geldes sie immer schon vor dem Ende des Monats bedroht. Solche existenziellen Interessen und Gefühle sind ebenso wenig despektierlich wie eine Vorliebe für Fußball oder die Schlagershow. Der Integrationsauftrag an den öffentlich-rechtlichen Rundfunk umfasst das Bemühen, alle Bevölkerungsgruppen und -schichten von der Suche nach Sündenböcken oder falschen Heilsbringern abzuhalten – nicht zuletzt durch Anerkennung. Auch deshalb gehört es zu seinem Auftrag, stets nach neuen Rezepten zu suchen, um eine Massenabwanderung per Fernbedienung und heute mehr noch per Mouse-Klick und Smartphone zu verhindern.

Fiktionales und Unterhaltung unterschiedlichster Genres haben ihren berechtigten Platz dabei. Lange stellte sich während der Wir-schaffen-das-Flüchtlingsdebatte die Frage, warum in diesem Kontext nicht häufiger journalistisch und dokumentarisch auf die millionenfach in unserem Land sedimentierte Erfahrung mit der Integration von Weltkriegsflüchtlingen und Heimatvertriebenen Bezug genommen wurde, der Dörte Hansen in "Altes Land" ein so beeindruckendes literarisches Denkmal gesetzt hat. Dann flimmerte eines freitags abends "Wachtmeister Krause" zur besten Sendezeit im Ersten über die Mattscheibe. Und seine Schwester sagte mit Blick auf zwei syrische Flüchtlingskinder (sinngemäß): "Weißt du noch, Hotti? Wie wir zwei damals, als wir hier ankamen." Und wenn bei Florian Silbereisen wohlgestalte junge Männer mit dem Preis zur Vergabe durch den Showmaster herangetanzt kommen, statt dass eine Assistentin herbeistöckelt wie weiland bei Kulenkampff, dann drückt das nicht nur veränderte Geschlechterrollen aus. Es fördert ihren Wandel. Und die "Kaisermania"-Band aus Spitzenmusikern war ein bemerkenswert diverser Kontrast zum 71-jährigen Star im Anzug mit Weste plus Krawatte. "Inhalte mit allein unterhaltender Zielsetzung" können willkommene Nebenwirkungen haben. Sie zur Voraussetzung zu erheben, gliche jedoch der Vorschrift der McCarthy-Ära, nach der Hollywood-Filme ein Happy End haben mussten. Manch Regisseur karikierte sie gekonnt durch völlig unglaubwürdige Übertreibung.

Der 3. MÄStV und die erweiterte Aufgabenstellung für die Gremien auf gesamtstaatlicher Ebene wie nachfolgend für die durch Landesgesetze beauftragten Programme werden die Debatten um Qualität und Quote nicht beenden. Auch die Repräsentant:innen der Allgemeinheit werden nicht immer alle gemeinsam zufrieden stellen können. Denn es geht um ein beständig neues Abwägen und Austarieren, auch von Ressourcen aller Art, für einen attraktiven Mix aus Information, Kultur, Bildung, Beratung und Unterhaltung als "Gesamtangebot für alle" (3. MÄStV, § 26, Abs. 1, Satz 4). Divergierende Weltbilder, gegensätzliche Meinungen, taktisch bezogene oder geräumte politische Positionen und knallharte Interessen werden auch weiterhin für Unzufriedenheit, Kritik, Streit und Debatten sorgen. Bleiben wir (mit Ingo Zamperoni) zuversichtlich, dass die gut 500 Mitglieder in den Gremien der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten es mit Blick auf das Publikum wie untereinander hinbekommen, die Regel zu beherzigen, die Sophie Schönberger in ihrem großartigen Essay "Zumutung Demokratie" als deren wesentliche Voraussetzung formuliert hat: "den anderen auszuhalten und als grundsätzlich gleich zu akzeptieren".

2.11.2023